Schleudertrauma (besser Beschleunigungsverletzung)
Der weit verbreitete Begriff des “Schleudertraumas“ ist in medizinischen Kreisen mittlerweile nur noch selten gebräuchlich, da er den Umfang der Verletzungen und Symptome die zu berücksichtigen sind, nicht wiedergibt.
Heute spricht man heute daher eher von “Beschleunigungsverletzungen“, um die Komplexität der Beschwerden zu umschreiben.
Die Nomenklatur unterscheidet weiter noch in:
Zervikoenzephal = Störungen im Nacken und Hirnbereich
Zervikobrachial = Störungen im Nacken in die Arme
Zervikomedullär = Störungen im Nacken und verlängerten Rückenmark (Medulla)
Rein Zervikal = Störungen nur im Nackenbereich
Hierbei werden die Gewichtungen der entsprechenden Symptome beschrieben.
Die unterschiedlichen Symptome und Ausbreitungsgebiete erklären sich aus den verschiedenen Unfallmöglichkeiten.
Heck-, Frontal- oder Seitenaufprall.
Waren der Kopf und die Schulterpartie beim Aufprall gekippt oder gedreht (Out-of-position-Kopfhaltung) und ist der Kopf evtl. noch gegen Fahrzeugteilen gestoßen (Contact -, Non-Contact-Jnjury).
All dies ist bei der Bewertung der Symptome zu berücksichtigen.
Jetzt wird auch klar warum dieses System nicht mit dem einfachen Namen “Schleudertrauma“ als Bezeichnung auskommt.
Gleichfalls kann man sich jetzt schon Vorstellen warum viele Symptome immer noch übersehen bzw. falsch zugeordnet werden.
Mittlerweile spricht man auch vom “Late wiplash syndrome“ (spätes Schleudertrauma) oder “posttraumatischen Zervikalsyndrom“, was das auftreten von Beschwerden erst nach Tagen, Wochen ja sogar Monaten oder Jahren berücksichtigt.
Klassischer Ablauf eines Heckaufpralls (Biomechanischen Bewegungsabläufe):
Beschleunigung des Fahrzeugs
Oberkörperbeschleunigung des Unfallopfers mit einer Extension des dorsozervikalen Bereichs (Streckung der hinteren HWS-Bereiche) und Hyperflexion der oberen HWS (Überbeugung der oberen HWS)
Hyperextension der gesamten HWS (Überstreckung der gesamten HWS)
Flexion der gesamten HWS (Vorbeugung der gesamten HWS) (Rebound-Phänomen)
Rückkehr zur Normalposition
Hierbei wird klar welchen Kräften die HWS widerstehen muss und welches Verletzungspotential besteht!
Welche Symptome können beim Patienten mit Schleudertrauma auftreten:
1. Kopfgelenkstörung
Kopfschmerzen
Schwindel
Seh- und Hörstörungen
Ohrgeräusche (Tinnitus)
Vegetative Dysregulationen (Störungen der Thermoregulation, des Tag- und Nachtrhythmus, der peripheren Vasomotorik)
Konzentrationsschwäche
Rasche Ermüdbarkeit
Psychische Labilität bis Depressionen
2. Kopfgelenkinstabilität
Erschütterungsschmerz
Traktionsschmerz
Schmerzhafte endgradige Bewegung in die instabile Richtung, verstärkt durch Druck
Instabilitätsgefühl, bei gleichzeitiger Bewegungseinschränkung in alle Richtungen
“Zwangshaltung“ in aufgerichteter Position
Starkes Bedürfnis den Kopf zu halten
“Rückenmarkszeichen“: bilaterale Störungen in die Arme und mehr der Beine, starke Übelkeit vor allem bei Flexionsbewegungen des Kopfes, Pyramidenbahnzeichen (Hyperreflexie bis Kloni, selten Arefelxie; Babinski-Zeichen u.a.; spatische Tonuserhöhung).
Welche Verletzungen treten als Folge eines Schleudertraumas auf:
Neben offensichtlichen Veränderungen der WS, wie Distorsionen, Lateropositionen, Torsionsskoliosen oder gar Frakturen (WK; Proc. transversi; Dens axis), sind die nicht unmittelbaren erkennbaren Verletzungen oft schlimmer.
Hierzu zählen Bänderdehnungen bis zu Rupturen (Lig. alaria, Ligg. cruciforme etc.), Kapselzerrungen an den Wirbelgelenken, aber auch Muskelzerrungen und –rupturen besonders der oberen HWS-Muskeln (Mm. recti capitis, Mm. obliquii capitis etc.).
Selbst Verletzungen der Gefäße, hier insbesondere der A. vertebralis, sind zu berücksichtigen und in der Diagnostik auszuschließen.
In der Praxis ist es sehr oft so, dass nach schwereren Unfällen die Kliniken nur die unmittelbaren Schäden erfassen können, da sie sich vordringlich um das Überleben des Patienten kümmern müssen.
In der Behandlungspraxis aber ist der Fall anders gelagert. Hier kommen die Patienten mit den o.g. unterschiedlichsten Beschwerden und diese müssen dann dem Unfallgeschehen zugeordnet werden.
Erschwert wird das ganz dadurch das die Patienten erst Wochen, Monate oder gar Jahre nach dem Unfallgeschehen in die Praxis kommen.
Umso wichtiger ist eine gründliche Anamnese, die Unfalltraumata miterfasst.
Die manuelle Untersuchung der HWS mit Inspektion und Stabilitätstests, stellt einen sehr hohen Anteil an der Diagnostik.
Zur Untermauerung der Befunde eignet sich am besten das MRT (in Funktionshaltung), da hier die Weichteilstrukturen deutlich erkennbar sind und somit Veränderungen schneller Erkennbar werden als bei anderen radiologischen Techniken.
Das klassische Röntgenbild in 4 Ebenen mit Zielaufnahme C ½ ist für eine alleinige Aussage nicht mehr relevant. Hierbei werden nur grobe strukturelle Veränderungen wie Dislokationen, Distorsionen oder gar Frakturen erfasst.
Das CT wiederum ist von der Bildauflösung nicht so gut und eignet sich, auch aus anderen Gründen, eher zur Bandscheibendiagnostik.
Was oft übersehen wird ist auch, dass Patienten nach OP’s, s.g. Lagerungsprobleme haben. Die HWS wird bei der Intubation in eine überstreckte Haltung gebracht, das kann bei vorbelasteten Patienten oder bei ungenügender Rücklagerung auch zu starken Belastungen der Kopfgelenke, ähnlich einem „Schleudertrauma“, führen. Durch die komplette Muskelrelaxierung kann sich keine Abwehrspannung bilden und daher kann es seltener zu Zerrungen, öfter aber zu Distorsionen von Wirbelkörpern kommen.
Wichtig ist, dass der Patient sich umgehend in Behandlung begibt, wenn möglich noch am selben Tag, auch wenn er den Unfall als geringfügig einschätzt wird.
Denn immer häufiger treten die zuvor erwähnten “Late wiplash syndrome“ auf.
Dr. Bodo Kuklinski hat in seinem Buch „Das HWS-Trauma“, erschienen im Aurum-Verlag, die Beschwerden und Störungen bei HWS-Traumata weitläufig beschrieben und erläutert.